Herzfaden - Thomas Hettche
Vielen Dank an den Kiepenheuer & Witsch Verlag für dieses kostenlose Rezensionsexemplar.
Seitenanzahl: 288
Erscheinungsdatum: 10. September 2020
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Beschreibung:
Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat. Sie beginnt im 2. Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Gefangenschaft einen Puppenschnitzer kennenlernt und für die eigene Familie ein Marionettentheater baut. In der Bombennacht 1944 verbrennt es zu Schutt und Asche. »Herzfaden« erzählt von der Kraft der Fantasie in dunkler Zeit und von der Wiedergeburt dieses Theaters. Nach dem Krieg gibt Walters Tochter Hatü in der Augsburger Puppenkiste Waisenkindern wie dem Urmel und kleinen Helden wie Kalle Wirsch ein Gesicht. Generationen von Kindern sind mit ihren Marionetten aufgewachsen. Die Augsburger Puppenkiste gehört zur DNA dieses Landes, seit in der ersten TV-Serie im westdeutschen Fernsehen erstmals Jim Knopf auf den Bildschirmen erschien.
Meine Meinung:
Dieses kleine, feine Buch, das unter anderem auch - ganz zu Recht - im Jahre 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war, ist die perfekte Wahl für die kalte Jahreszeit, in der man sich nur zu gern mit einem heißen Tee und einem guten Schmöker unter eine warme Decke kuschelt, während draußen der eisige Wind ums Haus pfeift und Schneeflocken fallen. Mein Leseeindruck ist nun im Nachgang überaus positiv, und doch war das nicht von Anfang an ersichtlich. Ganz im Gegenteil; tatsächlich hatte ich große Probleme beim Einstieg in die Geschichte. Ich fühle mich nicht ganz wohl, es so ausdrücklich zu sagen, aber der Roman ließ den Verdacht in mir aufsteigen, ich hätte einfach schon zu viele Geschichten über den Nationalsozialismus gelesen. Ich hatte leider das Gefühl, den Beginn der Geschichte schon tausende Male gelesen oder im Film gesehen zu haben, worauf sich eine Art Überdruss bei mir einstellte. Hettches Darstellungen konnten in meinen Augen der allgemeinen Erzählung über die historische Zeit des Nationalsozialismus nichts mehr hinzufügen. Stets sind es Erzählungen aus der Insiderperspektive, in der der Blick auf den Nationalsozialismus unbescholten kritisch ist. Deutlicher gesagt, er gleicht dem heutigen - es ist eine Nacherzählung durch die heutige Brille, wodurch es zwar aus dem Publikum keine Anschuldigungen einer Verharmlosung hagelt, dem Text jedoch ein großes Stück Authentizität und dem Leser jegliche Möglichkeit auf Aha-Momente genommen werden.
Der Blickwinkel der inneren Emigration der widerständigen Deutschen ist mir mittlerweile beinahe ebenso vertraut wie der angst- und hasserfüllte aus dem Ausland. Kann es in diesem Sinne tatsächlich eine Übersättigung in der Literatur geben? Kann es diese überhaupt zu dem Thema geben? Ich tendiere stark zu einem Nein, aber ist es noch möglich dieses Thema innovativ und neu zu verarbeiten, nicht immer nur derart plakativ zu repetieren, wie es schon zahlreiche Andere vor einem gemacht haben und noch künftig machen werden? Was dem Innovativen innerhalb Hettches Abriss wohl noch am nächsten kam, war die Inszenierung zur Bedeutung von Kunst in Krisenzeiten am Beispiel des Marionettentheaters unter Soldaten im Krieg und damit, inwiefern es die kleinen Dinge sind, an die man sich in schweren Zeiten krallt. Aus der Metaebene lässt sich immer wieder beobachten, inwiefern die Figuren sich in den Geschichten des Theaters Analogien zu ihrer eigenen Realität bilden. Besonders gelungen ist dem Autor hierbei speziell die Wirkung auf die Figuren und die Schraffierung der unterschiedlichen Gefühlsebenen, besonders im Kontrast zwischen der ideologischen Funktion des staatlichen Theaters gegenüber der gesellschaftskritischen des Marionettentheaters, welche beinahe filmisch in meiner Erinnerung hängengeblieben sind.
"Das ist der Herzfaden [...]. Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht." (Seite 64)
Steil bergauf ging es für mich schließlich, als die Geschichte einen zeitlichen Sprung in die Nachkriegszeit absolvierte. Ab diesem Zeitpunkt gab es tatsächlich einen drastischen Anstieg in meinem Gefallen am Buch. Die Figuren und ihre charakteristischen Eigenheiten sowie die Familiendynamik unserer Protagonisten wurden wunderbar realistisch herausgearbeitet und sind mir in besonderer Weise ans Herz gewachsen, sodass ich sie gern noch viele Seiten mehr begleitet hätte. Auch die Entstehung des Augsburger Puppentheaters sowie dessen Weg zum Ruhm ist eine überaus interessante und erzählenswerte Geschichte, da sich in ihr so viel des 'neuen', 'modernen' Deutschlands repräsentativ entschlüsseln lässt.
Jedoch ist dies nicht die einzige Geschichte, die uns Leser unter dem Buchdeckel erwartet. Eingebettet ist sie nämlich in die Rahmenhandlung eines Mädchens, das - sei es durch Zufall oder Schicksal - auf dem Dachboden der Augsburger Puppenkiste ein eigenes kleines Wunder erlebt. So trifft sie auf die längst verstorbene Hatü, unsere Protagonistin aus dem vorig erwähnten Erzählstrang, die ihr ihre Lebensgeschichte darlegt, während das Mädchen ihre eigene Heldengeschichte erlebt. Diese zweite Nebenhandlung mutet geradezu märchenhaft an und erinnert stark an E.T.A. Hoffmanns Nussknacker, indem auch hier, wenn auch nicht das Spielzeug, so aber die Marionetten zum Leben erweckt werden.
Zu Anfang ließen mich insbesondere die Charakterisierung des Mädchens skeptisch werden. Beschrieben wird sie als zwölfjährig, was jedoch in einem starken Kontrast zu ihrem kindlich-übersteigertem, affektivem Auftreten steht. Über die Seiten hinweg schien mir das jedoch die bestimmte Intention des Autors zu sein, denn gehört ein Alter von zwölf Jahren nicht tatsächlich vielmehr der Kindheit an, die nur heutzutage vom zu zeitigen Erwachsenwerden unserer technisierten, digitalisierten Welt überschattet wird? Dementsprechend offenbart Hettche eine in unseren Augen kleine Erwachsene, die sich doch vielmehr durch eine kindliche Verletzlichkeit und Fantasierlust ausmacht, welche durch die Magie der Augsburger Puppenkiste wieder erwachen. Insbesondere in diesem fabulös-phantastischem Teil kristallisiert sich Hettches feinfühliger Schreibstil heraus, in dem ein sehr melancholischer, beinahe wehmütiger Ton mitschwingt. Viele seiner Sätze trafen mich bis ins Mark, was auch stets in kraftvollen Dialogen zum Tragen kommt.
"Ich wehre mich einfach dagegen, zu werden, was man einen richtigen Erwachsenen nennt. Eines jener entzauberten, banalen, aufgeklärten Krüppelwesen, das in einer entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert. Wissen Sie: In jedem Menschen lebt ein Kind, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig. Und dieses Kind, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft, dieses Kind bedeutet bis zu unserem letzten Lebenstag unsere Zukunft." (Seite 272)
Auch die Aufmachung des Buches kann man nur loben. So sind die unterschiedlichen Erzählstränge jeweils in blauem oder rotem Text gehalten, was stark die Unendliche Geschichte von Michael Ende (dem übrigens auch ein Auftritt im Buch gewährt wird) erinnert - wie man sieht, scheut sich der Autor nicht vor inter- und paratextuellen Anspielungen, was ich sehr genossen habe. Zusätzlich wird der Text von insgesamt siebenundzwanzig Illustrationen aus der Feder von Michael Beckmann begleitet, die das märchenhafte Leseerleben vollends abrunden.
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