Aus der Welt - Karl Ove Knausgård

Vielen Dank an den Luchterhand Verlag für dieses kostenlose Rezensionsexemplar.




Preis: 26,00 € (Gebundene Ausgabe) | 14,99 € (eBook)
Seitenanzahl: 928
Erscheinungsdatum: 19. Oktober 2020
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Originaltitel: Ute av verden

Beschreibung: 
Hoch oben im Norden Norwegens spielt diese Geschichte, kurz vor der Jahrtausendwende. Der junge Henrik Vankel arbeitet hier als Aushilfslehrer. Selbsthass, Einsamkeit und Schamgefühle bestimmen sein Leben. Schon lange ist er aus der Welt gefallen, schon lange versteht er die Zeichen seiner Mitmenschen nicht mehr – schon lange verschwimmen ihm Traum und Realität. Bis ihm eines Tages klar wird, dass er sich verliebt hat. In eine seiner Schülerinnen. Eine eigentlich unmögliche Liebesgeschichte. Ist dies wirklich die Rettung – oder der Auftakt zum endgültigen Zusammenbruch?  

'Aus der Welt', das gefeierte Romandebüt von Karl Ove Knausgård, hat viele Facetten. Von Sprach- und Verbindungslosigkeit ist darin die Rede, vom verzweifelten Versuch, sich einen Sinn zu erschaffen in einem rätselhaften Dasein. Es erzählt die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Norwegen der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in einer Familie und einer Welt, in der Scham und Schuldgefühle zu den stärksten Triebfedern überhaupt gehören. Es ist das sprachmächtige Debüt eines jungen Schriftstellers, eine erbarmungslose Erkundung des männlichen Egos und der Selbstzerstörung, aber auch eine literarische Feier von überbordender Phantasie.

Meine Meinung:

Knausgårds Roman hat mich beinahe jede mögliche Emotion fühlen lassen - lachende Freude, zögerliche Scham, prickelndes Begehren, angewiderte Empörung, taumelnde Verwirrung, zarte Rührung, aber leider auch gähnende Langeweile. Und es fällt mir schwer, für dieses Buch einen tatsächlichen Fokus zu finden, in dem sich der Plot und die Thematik des Romans bewegt, denn wenn er eines ist, dann vor allem: ein Gedankenstrom aus einer gar unendlichen Vielseitigkeit.

"Selbst die schlimmsten Erinnerungen haben früher oder später etwas Gutes, immer gibt es etwas, dessen Nähe die Gedanken suchen können. Die Nostalgie ist schamlos. Nicht, was du gemacht hast oder was mit dir gemacht wurde, nicht, wie es dir ging, sondern dass du dort warst. In einer anderen Welt." (S. 12)

Henrik, unser Protagonist, führt uns in Knausgårds neuaufgelegtem Debütroman durch seinen Alltag in Norwegen und gleichzeitig durch sein ganzes Leben, seine ganze Psyche. Vielleicht sollte man das Thema des Buches auch genauso auffassen: das Thema ist Henrik in all seiner Zerstreutheit, in all seiner Verlorenheit, in all seiner Pendelei zwischen Ort und Zeit. Es geht um einen jungen Mann, der noch nicht viel von der Welt gesehen hat und sich dennoch aus der Welt herausgenommen fühlt, und der kläglich daran scheitert, sich selbst zu fassen zu bekommen und zugleich seiner Vergangenheit zu entschwinden.
Vielmehr beginnt er zu kompensieren, und diesen Kompensationsprozess, der sich zum einen auf kleine Intrigen, aber auch auf die romantische Zuwendung zu einem halb so alten Mädchen ausweitet, lässt der Autor uns hautnah erleben. Miriam, in die Henrik sich verliebt, ist dreizehn Jahre alt - ein Alter, das für Henrik prägend und so traumatisch war, dass er seitdem kaum an geistiger Reife zugewonnen hat. Somit ist es auch schwierig zu sagen, ob wir es hierbei tatsächlich mit einem Narrativ des Missbrauchs zu tun haben oder einer Geschichte der Selbstergründung und Wiederfindung oder gar einer Mischung aus beidem. 

"Es wird mich niemals in Frieden lassen, dachte ich. Egal, was ich tue, egal, wo ich bin, wird es sich stets gegen mich wenden. Die Feindseligkeit, die in meiner Nähe immer da war, direkt neben mir, ich konnte ihr nicht entfliehen. Sie vergessen, sicher, das ging, und das tat ich, ich vergaß sie, eine ganze Weile, ein paar Tage, für einen Monat vielleicht. Aber sie vergaß mich nicht." (S. 492)

Henrik ist ein tiefgründiger Charakter und durch seine Ambivalenz für den Leser schwer zu begreifen, nichtsdestotrotz allzu interessant zu beobachten, wie er fluide durch Situationen und Hindernisse wabert, ohne jemals sein wirkliches Ich zu materialisieren. Und vielleicht, nur vielleicht, ist das ebenso ein Thema dieses Romans: Gibt es überhaupt dass allbekannte, viel diskutierte wahre Ich oder setzt sich ein Charakter nicht aus all seinen unterschiedlichen, manchmal doch allzu konträren, manchmal kaum voneinander zu unterscheidenden Facetten zusammen? Henrik ist unterwürfig und heuchlerisch, er ist treu und verträumt, er ist manipulativ und aufmerksamkeitsbedürftig, aber zu einem mindest genauso großen Teil schüchtern und zurückgezogen. All das ist er, all das gehört zu ihm. 


"Mit dir geschieht etwas in der Welt, dessen du dich entsinnst, das Ereignis wird eine Erinnerung, eine Spur in deinem Gehirn, Chemie. Allein hat die Erinnerung keinen Wert, solange du nicht an sie denkst, existiert sie nicht. Wie viele Erinnerungen mag es geben, die deshalb niemals erlöst werden? Denn es ist eine Erlösung. Doch der Austausch findet in der umgekehrten Richtung statt, die Erinnerung geht nicht aus der Welt in dich hinein, sie geht aus dir in die Welt hinaus. Und danach ist die Welt eine andere." (S. 535)

Vor diesem Roman habe ich kaum norwegische und noch nie Knausgårds Werke gelesen. Zu ersterem muss ich wirklich gestehen, dass dies etwas ist, das ich in kommenden Leseerlebnissen nicht mehr missen möchte. Ich habe die Beschreibungen der norwegischen Natur, Kultur und Lebensweise so sehr geliebt, dass ich wahrscheinlich niemals daran hätte müde werden können ... im Gegensatz zu zweiterem. Der Autor, das lässt sich nicht bestreiten, birgt ein unheimliches Potenzial an Schreibtalent, das auch schon deutlich in diesem Debütroman zu spüren ist, der ursprünglich 1998 erschienen ist. Dennoch sank mein Lesevergnügen vom ersten zum zweiten und besonders vom zweiten zum dritten Teil immer mehr. Knausgårds Schreiben wird immer experimenteller, unstrukturierter, undurchsichtiger und schlägt in Richtungen aus, die zum einen kaum etwas mit dem Plot zu tun hatten, zum anderen einfach ermüdend und teilweise uninteressant für den Leser waren. Selbstverständlich spiegelt dieser dritte Teil des Romans Henriks innere Verfassung, nichtsdestotrotz bin ich der Meinung, dass dem Werk an dieser Stelle eine ordentliche Kürzung gutgetan hätte. Dennoch konnte mich der ausschweifende, einladende und bildliche Schreibstil des Autors sehr mitnehmen und neugierig auf seine weiteren Werke machen, denen ich mich definitiv früher oder später zuwenden möchte. Der Autor verfügt über eine derart feine Beobachtungsgabe, dass man häufig berührt und nachdenklich aus seinen Beschreibungen herausgeht. Er fängt kleine Situationen derart gut ein und verwebt sie mit Überlegungen, die seinen Lesern wahrlich einen neuen Blick auf diese schenken können. 

"Ich wünschte, ich könnte das alles hinter mir lassen, denke ich kurze Zeit später auf einer Bank im Park. Dass all diese Dinge nicht in mir blieben, sondern vergingen, sobald sie passiert waren. Nicht wie jetzt, wenn sich alles Schicht für Schicht aufstapelte und unumgänglich wurde. Fast alle Gedanken führten zu etwas, was ich einmal getan hatte, als wären sämtliche Gedankengänge Sackgassen, in denen man nicht weiterkam." (S. 808)
                                                                                                

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